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Wo man hinschaut

Mein Nachbar ist ein Techniker, mit Leib und Seele. Naturgemäß gilt sein Interesse allen baulichen Maßnahmen in seinem Garten, das neue Haus, der Zaun, die Wege – da ist er in seinem Element. Die Gartengestaltung überlässt er zur Gänze seiner Frau, von Pflanzen versteht er nichts und hat auch wenig Gespür für sie. Er ist glücklich, dass ich keinen Aufstand mache, wenn seine Kolkwitzie zur Hälfte über meinem Grund hängt und regt sich im Gegenzug kein bisschen auf, wenn meine Himbeeren und Brombeeren mit ihren Ausläufern seine Gartenecke erobern.

Er bewundert aber meinen Garten sehr und kommt ihn sich gerne anschauen, wenn ich wieder etwas Neues habe. Vor einiger Zeit machte er mir ein verblüffendes Kompliment: „Ich finde deinen Garten so toll, wegen der raffinierten Sichtachsen.“ „Sichtachsen?“, wiederholte ich überrascht. „Ja, wo immer man steht, schaut man auf etwas Schönes“, erklärte er mir und fügte grinsend hinzu: „Ich bin halt ein Techniker.“

Nun war mir das Wort „Sichtachsen“ geläufig, oft genug hatte ich es schon in Büchern und Artikeln über Gartengestaltung gelesen. Meist allerdings in Zusammenhang mit der Raumaufteilung von mehreren Hektar Grund, mit Alleen, die auf das Herrschaftshaus zuführen, mit Baumgruppen, durch die der Blick mit dem angrenzenden Wald verschmilzt, mit Torbögen, die das Rasenparterre dahinter erahnen lassen, und mit meterhohen Hecken, die den Besucher zur Statue im rosenumkränzten Pavillon lenken. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, den hochtrabenden Begriff in meinem Briefmarkengarten anzuwenden, und die Tatsache, dass mein Technikernachbar mir zutraute, solche architektonischen Kniffe bewusst geplant zu haben, schmeichelte mir enorm.

Am nächsten Tag ging ich meinen Garten ab. Nein, voller Stolz SCHRITT ich ihn ab und versuchte, die Sichtachsen zu finden. Plötzlich sah ich mein kleines Reich mit anderen Augen und schmückte es im Geiste mit dem Vokabular der Gartenkunst.

Von der erhöhten Terrasse blickt man hinab ins mediterrane Kräuterbeet, erkennt den geschwungenen steinernen Weg und hebt das Auge in den alten Baumriesen, der seit Jahrzehnten das Bild beherrscht. Folgt man dem einladenden Pfad, kommt man zum Schattenbereich unter der geglückten Farbkomposition aus Blutpflaume und Hainbuche, unterpflanzt mit dem ewigen Grün von Farnen, wo eine hölzerne Terrasse mit einem gemütlichen Sitzplatz auf den Nachmittagstee wartet. Von dort schweift der Blick zum Brunnen, der in stiller Verwunschenheit daliegt, zur bedeutenden Storchschnabelsammlung der Besitzerin und zum wogenden Präriebeet, das die letzten Strahlen der Nachmittagssonne einfängt und Erinnerungen an die endlose Weite mit ihren Bisonherden wachruft. Eine reizende Nische vor dem dunklen Hintergrund der Eibenhecke, in der sich eine dunkelrote Rose an einem Obelisken emporrankt, leitet über zur duftenden Blumenwiese, die von einem Pfirsichbäumchen umrahmt wird. Über eine Schwelle mit niedriger Heckenbepflanzung gelangt man auf den breiten Rasenweg, hinter dem ein Mixed Boarder mit seiner Pracht aufwartet. Linker Hand, unter der lichten Eberesche, die geschickt einen Ruhepol zwischen den einzelnen Bereichen darstellt, eröffnet ein zierlich geschmiedeter Bogen die Aussicht auf den Gemüsegarten des Anwesens, in dem auch bunte Blumen nicht fehlen dürfen. Ein Weinspalier begrenzt das Grundstück und schließt den Reigen zur Eibenhecke. Erst beim Betreten des schmalen strohgedeckten Weges wird die Anlage, deren Grundriss mittelalterlichen Klostergärten entlehnt ist, zur Gänze sichtbar. In der Mitte des Wegkreuzes erfrischt ein ornamentaler Brunnen das Auge des Besuchers und die umliegenden Pflanzungen. Nach ausgiebiger Betrachtung der geometrisch angelegten Beete wendet man sich zurück zum Haus und findet hinter hohen Gräsern einen verborgenen Ruheplatz, an dem ein kleiner Teich munter sprudelt. Die exotische Farbenpracht des Feuerdorns lenkt ab von den Nutzbauten für die eigene Komposterzeugung. Beerensträucher säumen den Rundweg zurück zur Terrasse, die man über zwei breite Stufen wieder betritt.

"... erfrischt ein ornamentaler Brunnen..."

Wow, was für ein Garten! Ich sollte Eintritt verlangen.

Eure Flora

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Anonymous

    Gratulation !
    Ja, in „Natur im Garten“ gibt es „Gartentage“, an denen hauptsächlich Private ihre Gärten öffnen (meist € 5,00, aber inkl WC und u.U. auch Glas Wasser). Das wäre doch was!
    Weiter so!
    Silva

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