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Der alte Herr

Der Familienlegende nach wurde er von meiner Großmutter zu meiner Geburt gepflanzt. Als 12-Jährigen hat sie ihn irgendwo ausgegraben, wo er unerwünscht war, und in ihren Garten gesetzt. Wenn das alles so stimmt, ist er jetzt 70 Jahre alt – mein Marillenbaum.

Als mächtiger Hausbaum mit einem Kronendurchmesser von 7 Metern ist er am Nachmittag Schattenspender für die Terrasse und dafür lieben wir ihn. Für seine Marillen lieben wir ihn auch, aber erst nach der Ernte, wenn sie zu Marmelade verkocht sind, vorher bezeichnet sie mein Mann, der jährlich rund 200 Gläser produziert, genervt als „gelbe Scheiße“. Da der Baum in guten Jahren rund 200 kg Früchte trägt, halten wir uns gar nicht mit Pflücken auf, sondern klauben nur auf, was vollreif von selbst herunterfällt. Dementsprechend gut ist die Marmelade und findet im Freundeskreis reißenden Absatz.
Bis vor zwei Jahren hatte er fast nur gute Jahre. Schlechte bedeuteten nur 50 kg Obst. Einmal habe ich bei 300 kg aufgehört abzuwiegen. Und jedes Jahr habe ich ihm gut zugeredet, er solle sich nicht übernehmen in seinem Alter (ja, ich rede mit meinen Pflanzen).

 

Bis es dann vorigen Sommer soweit war. Nach überreicher Blüte schwächelte er plötzlich beim Blattaustrieb, dürre und kahle Äste erschreckten mich so sehr, dass ich alle biologischen Ansätze über Bord warf und versuchte, ihm mit Blaukorn (pfui!) auf die Sprünge zu helfen. Zumindest war er danach wieder grün und ich spendierte ihm einen professionellen Schnitt. Obwohl wir lediglich ein Auslichten der Krone und ein Stutzen der Höhe ausgemacht hatten, stellten sich im Laufe der Arbeiten immer mehr morsche Teile heraus und er musste von Gewicht befreit werden. Als ich vom Büro heimkam, sagte mein Mann nur kleinlaut „die mussten das so machen“ und mir blieb das Herz stehen. Aus der stattlichen Krone waren ein paar nackte Äste geworden, aus einem Mann in den besten Jahren ein dürrer Tattergreis. Ich heulte.

Der Tattergreis hat heuer wieder geblüht wie ein Junger und hat so viele neue Triebe, dass er schon wieder einen ansehnlichen Schatten wirft. Wenigstens besitzt er so viel Verstand, dass er die Früchte heuer weitgehend sein lässt. Was drei Frostnächte nicht vernichtet haben, wirft er jetzt großzügig von sich.

Macht nix, wir haben eh noch genug Marmelade.
 
Eure Flora

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